Ontologische Basisverunsicherung

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Interview in: Konzepte. Literatur zur Zeit 20 (2001): 62–75.

Das Interview fand am 16. März 2001 in Karlsruhe statt. Die Fragen stellten Martin Gülich und Markus Orths.

 

 

Herr Zelter, seit wann leben Sie als freier Schriftsteller?

 

Seit 1997. Im Jahr 1997 hätte ich noch die Möglichkeit gehabt, an der Universität eine Stelle zu bekommen, das wäre sogar eine Stelle auf Lebenszeit gewesen. Im Sommer, als diese Stelle mir angeboten wurde, habe ich mich endgültig entschieden, ein Leben als freier Schriftsteller zu führen.

 

Haben Sie das je bereut? Oder anders gefragt: bedurfte es für Sie des absoluten Wagnisses, der Aufgabe jedweder Sicherheit, um Schriftsteller zu sein, oder würden Sie sich manchmal einen parallelen Brotberuf wünschen, um sozusagen „mit Netz zu turnen“?

 

Ich bereue es nicht, die Uni verlassen zu haben. Selbst wenn ich manchmal sehr besorgt bin über die finanzielle Situation als Schriftsteller, so gibt es keine Sekunde, in der ich sagen würde, wäre ich doch an der Uni geblieben. Ich wollte damals ganz und gar Schriftsteller sein bzw. werden, ohne irgendeine zeitliche oder nebenberufliche Einschränkung. Wenigstens für ein zwei Jahre. Mittlerweile sind vier Jahre vergangen und – auch zu meiner eigenen Überraschung – ich lebe noch. Andererseits sehe ich heute viel deutlicher die Probleme und Risiken des Schriftstellerdaseins. Man muss unterscheiden zwischen der rein finanziellen Seite, dem, was am Ende eines Jahres auf dem Konto ist, und den subtilen gesellschaftlichen Prozessen, durch die ein Schriftsteller immer wieder stigmatisiert wird. Wenn man beispielsweise die beiden Preise betrachtet, die ich jetzt bekommen habe, muss man sagen, dass sie natürlich sehr hilfreich sind, sie ermöglichen mir weiterzuleben, so viel zu verdienen wie ein sehr schlecht verdienender Mensch in einem Jahr. Aber ich muss mich für diese Preise, weil sie öffentliche Preise sind, immer auch irgendwie  rechtfertigen. Es kommen Zeitungsartikel, die unterschwellig fragen: Hat er diesen Preis überhaupt verdient? Man würde doch niemals Herrn XY fragen: Hat der überhaupt sein Gehalt verdient? Das heißt, der Schriftsteller steht immer wieder, gerade was die Finanzen anbelangt, unter einem Erklärungs- und Rechtfertigungsdruck. Das geht schon mit der Frage los: Was, Sie sind Schriftsteller, ja kann man denn davon leben? Das würde man keinen Arzt oder auch keine Putzfrau, ja eigentlich keinen Menschen fragen, aber man fragt es den Schriftsteller. Die Not des Schriftstellers ist nicht nur die Not des Geldes, sondern auch eine kulturelle Gegebenheit im Zuweisen einer bestimmten Rolle. Es ist nicht zuletzt die Rolle verschämter Dankbarkeit darüber, dass man überhaupt noch lebt.

 

Durch das Kappen der Sicherheit kam es da zu einer Art Befreiung, einem Befreiungserlebnis?

 

Ja, natürlich. Das war zunächst eine sehr große Befreiung. Aber mittlerweile, obwohl es mir finanziell besser geht als vor zwei, drei Jahren, sehe ich die Abgründe viel deutlicher als damals.

 

Lange bevor Sie Ihr erstes Buch veröffentlichten, veranstalteten Sie schon Lesungen. Sokrates sagte einmal, das Buch sei das Grab jeder Philosophie. Würden Sie dies auch für die Literatur gelten lassen und sagen, dass Erzählen mündlich bleiben kann, ähnlich wie der analphabetische Ich-Erzähler in Ihrem Buch Die Würde des Lügens, der alles nur auf Band spricht?

 

Ich habe da eine sehr ambivalente Haltung. Einerseits bin ich überhaupt nicht dagegen, dass etwas gedruckt wird. Karl Popper hat geschrieben: „Geschriebenes ist dem Gesprochenen vorzuziehen, und Gedrucktes ist noch besser.“ Er meint damit überhaupt nicht die Eitelkeit des Schriftstellers, sondern er meint: In dem Moment, wo etwas gedruckt ist, ist die Möglichkeit da, dass sich etwas objektivieren kann, bewahrt werden kann, sich verbreiten kann, multipliziert werden kann. Es nimmt dann ein objektives Eigenleben an, insofern, als dass es unabhängig vom Autor, auch von der körperlichen Präsenz des Autors, bei sehr vielen Menschen etwas bewirkt. Auf dieser Ebene habe ich ein sehr positives Verhältnis zu Veröffentlichungen in gedruckter Form. Andererseits leben wir in einer Gesellschaft, die es nicht sehr vielen Texten, gerade literarischen Texten, ermöglicht, gedruckt zu werden. Ich vermute, ein großer Teil unserer Literatur ist und bleibt unbekannt, da sie unveröffentlicht ist. Wenn dem so ist, dann muss man versuchen, aus der Not eine Tugend zu machen. Und das ist nun die andere Seite der Münze: Eine literarische Veröffentlichung ist nicht gleich Gedrucktwerden. Auch Lesungen sind für mich Formen der literarischen Veröffentlichung. Ich habe ein ausgesprochen positives Verhältnis zu Lesungen, da sie dem Autor ermöglichen, sich unabhängig zu machen von dieser geradezu kafkaesken Macht der Verlage, die jemandem, der anfängt zu schreiben, keine Chance geben. Eine Lesung ist insofern die einzige Möglichkeit für einen Autor, sich unabhängig von ganz gewaltigen institutionellen Mächten zu veröffentlichen.

 

Wobei man für gewöhnlich an Lesungen nur herankommt, wenn man schon etwas veröffentlicht hat…

 

Nicht unbedingt. Meine Erfahrung ist, dass es sehr viel leichter ist, an Lesungen heranzukommen als an einen Verlag, der bereit ist, ein Manuskript zu veröffentlichen. Das Amerikahaus in Stuttgart war, gerade weil mein Text nicht veröffentlicht war, sehr an ihm interessiert und wollten ihn als eine Art work in progress vorstellen. Also gerade die Tatsache, dass ein Text noch in der Schwebe ist, dass man noch an ihm arbeitet und die Lesung einem dabei hilft, hat viele Veranstalter dazu gereizt, mich zu engagieren, auch ohne gedruckte Veröffentlichung.

 

Bezugnehmend auf die schon angesprochene Tatsache, dass Sie weit vor der ersten Veröffentlichung so viele Lesungen gehalten haben, steht im Klappentext von Briefe aus Amerika, dass das Buch letztlich kein Debüt ist, sondern die Fortsetzung einer Geschichte. Jetzt ist die Geschichte weitergegangen, es sind zwei Bücher veröffentlicht, das dritte erscheint in Kürze, und Sie stehen weiterhin sehr oft auf der Bühne. Haben sich die Lesungen durch die Existenz dieser drei Bücher verändert?

 

Es hat sich insofern etwas geändert, als dass mich aufgrund der Veröffentlichungen mehr Angebote von Veranstaltern erreichen. Die Lesungen sind jetzt teilweise besser dotiert, und man könnte sagen, dass ich, fußballerisch gesprochen, von der Oberliga in die Regionalliga aufgestiegen bin, aber die Veranstalter dadurch auch viel dezidiertere Vorstellungen davon haben, wie die Lesung auszusehen hat. Das sind häufig Huckepacklesungen mit anderen Autoren, so dass die dramatischen Elemente meiner Lesungen nicht mehr zum Tragen kommen, sondern ich auf die üblichen Wasserglaslesungen zurechtgestutzt werde, also zwanzig, dreißig Minuten lese. Insofern lasse ich mich auch zunehmend von den Spielregeln vereinnahmen, die in einer höheren Liga gelten.

 

Sie haben eben den kabarettistischen Charakter Ihrer Lesungen angesprochen. Inwieweit sehen Sie sich als Kabarettist oder gar Schauspieler?

 

Nicht als Kabarettist, nicht als Schauspieler verstehe ich mich, sondern als Prosaautor, der versucht, mit dramatischen Elementen seine Texte besser  zur Geltung zu bringen. Ich versuche, auf verschiedenen Zeichenebenen zu arbeiten, mit verbalen und nonverbalen Zeichen und den Spannungen zwischen ihnen, das heißt, ich würde mich als „Prosadramatiker“ oder als „dramatischer Prosaautor“ bezeichnen. Die Engländer würden sagen: Ich schreibe und lese nicht im Sitzen, sondern im Stehen. Ich sehe mich als Sprechsteller, nicht als Schriftsitzer. Die sogenannten kabarettistischen, besser gesagt, dramatischen Elemente habe ich eingebracht, weil am Anfang der Legitimationszwang sehr stark war: Ein nichtveröffentlichter Autor, was hat der eigentlich zu bieten? Deswegen musste ich immer ohne Netz lesen: ohne Netz der Veröffentlichung, ohne Netz der Kritiken, ohne das Beglaubigte, Beeidete, Bewährte, ohne die typischen deutschen Bs, auch ohne Beziehungen. Mir war klar, dass ich damit auch tief fallen und ein Abend zum Beispiel in einer absoluten Peinlichkeit enden kann, wenn die Leute einfach schweigend dasitzen und überhaupt nichts mit dem Vorgetragenen anfangen können. Deshalb war es mir von Anfang an sehr wichtig, die Lesungen zu einem Gesamtkunstwerk zu stilisieren. Bei Briefe aus Amerika komme ich immer mit einer Art Schuluniform herein, mit einem Koffer und einer Herald Tribune, ganz so, als ob ich direkt aus Amerika hier nach Deutschland zu dieser Lesung käme. Ich spreche auch sofort Englisch, ein altertümliches Englisch, ich zitiere etwas aus dem 18. Jahrhundert, und das Publikum versteht kein Wort. Dann schlage ich das Buch auf und lese die ersten zwei, drei Sätze auch noch auf Englisch, und dann ist ein Punkt wie bei den üblichen Wasserglaslesungen erreicht: wenn das Publikum dabei ist, abzuschalten. Erst dann schaue ich auf und frage: „Sprechen Sie eigentlich Englisch?“ – „Nein, nein, nein“, sagt man, „bitte reden Sie deutsch!“ Damit ist also ein doppelter Einstieg geschafft: Einerseits verweise ich auf die Situation im Buch: jemand kommt gehetzt aus Amerika nach Deutschland; andererseits spiele ich zugleich auch auf die übliche Lesesituation an: dass Lesungen in der Regel langweilig sind.

 

Ihre Bücher sind sehr vielschichtig. Briefe aus Amerika kann man auf einer ersten Ebene als einen bizarr-absurden Campus-Roman lesen. Wenn man tiefer schaut, geht es in dem Roman sehr viel um das Fremdsein im Fremden wie im Vertrauten, um Angst, um Einsamkeit. Schließlich ist Briefe aus Amerika auch ein Buch über den Holocaust. Würde Sie es als Autor kränken, wenn ein Leser das Buch nur auf der ersten Ebene liest, auf der absurden Ebene und sich prächtig unterhalten fühlt?

 

Nein, das würde mich sogar sehr freuen, wenn sich jemand unterhalten fühlt. Oscar Wilde hat einmal gesagt, man solle bei der Betrachtung eines Kunstwerks in seiner Schönheit einfach nur Schönheit sehen und nichts Hässliches. Was mich sehr kränken würde, wäre, wenn jemand etwas sehr Hässliches oder Negatives in den Texten sehen wollte. Aber wenn jemand das erlebt, worauf der Roman auch angelegt ist, das Unterhaltsame, Bizarre, Groteske, dann freut mich dies. Das ist ja das, was sozusagen das Fleisch beim Leseprozess ausmacht, und wenn der Leser über dieses Fleischerlebnis das Gerippe, das Gerüst vergisst oder nicht sieht, so finde ich das nicht schlimm. Denn jedes Lesen ist ja per se ein selektives Lesen, und jeder Text wird ja laut Isers Rezeptionstheorie von jedem Leser noch einmal neu erzeugt. Umberto Eco hat einmal gesagt: Bei Text und Leser handelt es sich um eine komplexe Interaktion zwischen der Kompetenz des Textes und der Kompetenz des Lesers. Manchmal ist es eben so, dass die Kompetenz des Textes die Kompetenz des Lesers übersteigt, und manchmal ist es umgekehrt.
Das ist übrigens eine schöne Handhabe für alle Schriftsteller, die sich zu Unrecht kritisiert fühlen, wenn man sagen kann: Die Kompetenz des Textes übersteigt eben die des Kritikers.

 

Wenn man Ihre Texte liest, hat man das Gefühl, überrollt zu werden, mitgerissen zu werden, lawinenartig, die Gedanken und Ereignisse überschlagen sich. Lassen Sie sich selber beim Schreiben mitreißen? Oder ist das Kalkül?

 

Es ist insofern ein Kalkül, weil es in der Literaturgeschichte genügend Beispiele gibt für diese Art von Stil. Vielleicht nicht in der deutschen, aber zumindest in der englischen Literaturgeschichte. Einer der von mir sehr geschätzten Autoren ist Christopher Marlowe, der Meister des hyperbolischen Spiels, der vollkommenen Übertreibungen ins Uferlose. Er ist der Autor von Doktor Faustus oder Tamburlaine, die Geschichte eines Viehdiebs, der zum Weltherrscher aufsteigt. Da gibt es die wunderbare Stelle, wo Tamburlaine sich in eine Prinzessin verliebt und ihr immer größere und ausschweifendere Komplimente macht. Zum Beispiel: Auf elfenbeinernen Schlitten, von weißen Hirschen gezogen und von Tausenden frierenden Soldaten, soll man meine Angebetete über die Pole ziehen … Schließlich fragt ihn sein Berater „What now? In love?“, und er sagt „Women must be flattered“. Gerade Marlowe hat mich sehr stark beeinflusst. Mein Verleger hat einmal gesagt, er liebe die Übertreibung. Wenn ich also schon in vorauseilendem Gehorsam die eine oder andere Stelle etwas reduziert habe, sagt er: „Nein, lass es, ich liebe die Übertreibung.“ Das ist ein Satz, der mich sehr gerührt hat, weil man ihn eigentlich in der deutschen Literaturszene gerade so nicht aussprechen darf. In jedem Schreibseminar unterrichtet man genau das Gegenteil, nämlich das Reduzieren. Das sind diese paradigmatischen Grundhaltungen der Moderne, die durch Romanciers wie Hemingway so kanonbildend geworden sind. Literatur als spärliches, introvertiertes, minimales Unterfangen. Der Text soll nicht so viel Aufmerksamkeit auf sich selbst ziehen. Er soll zurückhaltend sein, realistisch bleiben etcetera. Zum Beispiel: Wenn man Gefühle erwecken will, soll man nicht über Gefühle schreiben, oder man soll die Adjektive reduzieren, am besten ganz weglassen, nüchtern schreiben und camera-like über die Welt, die man generiert, hinüberfahren, und so weiter. Und ich mache genau das Gegenteil, das Barocke, das Manieristische. Manierismus ist übrigens eine wichtige Stilrichtung gerade im Drama der Shakespeare-Zeit. Der Verlust der klassischen Einheiten, Ganzheiten, Ausgewogenheiten, und stattdessen eben das Verbogene, Übersprühende, Groteske, Uferlose. Deswegen ist es sehr wohl Kalkül, weil ich mich schon als Literaturwissenschaftler mit solchen Dramatikern wie Marlowe beschäftigt habe. Übrigens gibt es auch viele Literaturwissenschaftler, die interessante Bezüge hergestellt haben zwischen den grotesken Unterwelten der Bösewichte in den James-Bond-Filmen,  die ja auch vollkommen hyperbolisch sind, und diesen grotesken Welten bei Marlowe. Ich glaube, dass es so eine Literaturtradition in Deutschland nicht gibt und ich daher auch als sehr sonderbar gelte.

 

In Ihrem zweiten Buch, Die Würde des Lügens, gehen Sie ein großes Thema explizit an: Fiktion und Wirklichkeit. In der ersten Hälfte des Buches lügt der Ich-Erzähler das Blaue vom Himmel herunter und behauptet, es sei wahr, in der zweiten Hälfte erfindet er alle möglichen Ereignisse, die jedoch sämtlich historisch verbürgt so stattgefunden haben, wie er sie erfindet. Fiktion und Wirklichkeit: Das große Thema Ihrer Literatur?

 

Es ist ein Thema meiner Bücher. Fiktion, Wahrheit, Konstruktivismus. Wirklichkeit nicht als vorgegebenes Datum, als sich selbst offenbarende Natur oder ewig gültige Wahrheit, sondern als ganz und gar konstruiert. Dieser Befund ist natürlich überhaupt nicht neu, aber für das Schreiben ungemein wichtig, da das Schreiben par excellence ein Konstruktionsprozess ist und sich jeder Schriftsteller sowieso damit auseinandersetzen muss. Aber es ist bei mir deswegen ein so großes Thema, weil ich mich als Literaturwissenschaftler damit beschäftigt habe. Ich wurde zum Beispiel einmal dafür kritisiert, das Buch Die Würde des Lügens zu nennen. Lügen sei ja ein ganz archaischer Begriff, der erkenntnistheoretisch nicht haltbar sei, aber ich habe geantwortet: Ich habe so viel über die Fiktion und über die Philosophie der Wahrheit gearbeitet, dass ich es mir leisten kann, völlig ungenau zu sein und bin auch mit Absicht in Die Würde des Lügens sehr ungenau gewesen. Das Buch sollte nicht philosophisch korrekt sein, sondern etwas bewirken. Es gibt aber ein zweites großes Thema, das noch viel zentraler für mich ist. Das ist das Gefühl der überbordenden Angstszenarien: Was wäre, wenn meine Ängste, dass ich den Erwartungen der sozialen Welt nicht gewachsen bin, tatsächlich Wirklichkeit werden? In den Texten passiert genau das: Alle Dämme brechen, die schlimmsten Ängste, das Versagen, werden in groteskester Form erlebbar. In Die Würde des Lügens geht es immer wieder um das Überfordertsein des Ich-Erzählers. Und das Überfordertsein ist eine ganz wichtige Erfahrung unserer Generation, und zwar nicht unbedingt in moralischer Hinsicht, da gibt es andere Generationen, sondern ein Überfordertsein in dieser meritokratischen Welt, die ganz knüppelhart nach IQ, Leistung, nach Note bemisst, ob ein Mensch das Recht hat, überhaupt zu existieren. Genau das ist das viel zentralere Thema in den beiden Büchern. Der Psychiater Laing spricht in seinem Buch The Divided Self davon, dass so gut wie alle psychischen Erkrankungen von einer ontologischen Basisverunsicherung herrühren. Psychisch Kranke sind sich grundsätzlich nicht sicher, ob sie überhaupt noch leben oder ob sie ein Recht haben zu leben. Nichts ist mehr sicher. Und ähnlich ist es in meinen Texten: In keiner einzigen Szene oder Situation kann man sich sicher sein, ob man das so stabil halten kann. Im Gegenteil, man kann sich fast sicher sein, dass es umkippen wird, dass es erkenntnistheoretisch unsicher ist, gesellschaftlich unsicher ist, menschlich unsicher ist, dass selbst das einzelne Individuum vollkommen gebrochen und diskontinuierlich ist. Es ist nicht so, dass ich da meine eigene Basisverunsicherung thematisiere, das vielleicht auch, aber ganz sicher auch die Basisverunsicherung einer ganzen Generation, einer ganzen Zeit.

 

Bei Briefe aus Amerika haben wir schon über das Motiv der Einsamkeit gesprochen, das auch in Die Würde des Lügens eine zentrale Rolle zu spielen scheint. Würden Sie sagen, dass diese Anerkennungsängste, von denen Sie sprechen, letztlich Einsamkeitsängste sind?

 

Ich glaube, dass die Einsamkeit einhergeht mit der ontologischen Basisverunsicherung. Wie das kausal zusammenhängt, dazu möchte ich nichts sagen. Das eine bedingt das andere. Meine Romane sind schon rein formal gesehen auf das Thema der Einsamkeit hin angelegt. Briefe aus Amerika ist nicht ohne Grund ein Briefroman. Jemand schreibt in aller Einsamkeit Briefe. Sie bleiben unbeantwortet. Womöglich werden sie nicht einmal gelesen. Am Ende des Buches weiß man nicht einmal, ob die Hauptfigur Sender oder Empfänger der Briefe aus Amerika ist. Das (Briefe-) Schreiben geriert zu einem vereinsamten Sprachrausch. Im Roman heißt es: Briefe sind Briefe, auch wenn Absender und Empfänger eine Person sind. Die wichtigsten Briefe schreibt man an sich selbst, oder an die, die man für sich selbst hält. Ich schreibe und schreibe … Bei der formalen Konzeption der Würde des Lügens, als Tonbandaufnahmen, verhält es sich ähnlich.

 

Ist der Titel des Buches eher an Pico della Mirandolas „Würde des Menschen“ angelegt oder an Wildes „Decay of Lying“?

 

Ja, gut, das wissen Sie ja sicher beide, wie schwierig es ist, Titel zu finden, wie heikel die Titelsuche ist. Und Titel sind dann sowieso am Ende etwas Willkürliches, man sollte das nicht zu ernst nehmen. Der Hauptgrund, warum ich diesen Titel gewählt habe, ist einfach, er hört sich sehr schön an, er hat einen sehr schönen Rhythmus. Es haben sich allerdings bei Lesungen auch schon einige Leute beschwert: „Das ist ja unmöglich, die Lüge ist doch was Schlechtes, das kann doch keine Würde haben.“ Als mir Veranstalter mitgeteilt haben, dass schon einige Leute im Vorfeld der Lesung Amok gelaufen sind, habe ich gewusst, dass es der richtige Titel ist, weil er auch ein gewisses Provokationspotential hat.

 

Noch einmal zu Fiktionalität und Wahrheit. Dieses Thema ist zugleich Thema Ihrer wissenschaftlichen Arbeiten. Sie unterscheiden dort zwei grundsätzliche Weisen, wie Literatur ihre eigene Fiktionalität handhaben kann: „selbstreflexiv oder in Bezug auf die außerliterarische Welt“.

 

Hab ich das gesagt?

 

Doch, ja. Können Sie dies konkretisieren?

 

Nun ja, in den Literaturwissenschaften der sechziger und siebziger Jahre hat man meist versucht, recht philosophisch zu bestimmen, was genau das Fiktionale an einem literarischen Text ist. Also beispielsweise jemand wie Käthe Hamburger wollte in Die Logik der Dichtung einfach ewig gültige Kriterien aufstellen, nach dem Motto: Das macht den Text zu einer Fiktion. Zum Beispiel das epische Präteritum. Fiktionale Texte, nach Hamburger, sind immer im Präteritum geschrieben, denn wenn sie im Präsens geschrieben wären, würde die Illusion der Wahrheit, die natürlich in Wahrheit fiktional ist, wieder durchbrochen. Für all das habe ich mich in meiner Arbeit nicht interessiert, weil diese ewig gültigen Abgrenzungen zwischen sogenannten Fiktivtexten und Sachtexten sowieso nicht haltbar sind. Ich habe mich vielmehr damit beschäftigt, was passiert, wenn ein literarischer Text, der natürlich in jedem Fall Fiktion ist, die Idee der Fiktion in seinem eigenen Werk thematisiert. Und da gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder er thematisiert das in einem postmodernen Spiel wie zum Beispiel in The French Lieutenant’s Woman, wenn der Ich-Erzähler sich plötzlich selbst unterbricht und sagt: „This story I am telling is all imagination. These characters I create never existed outside my own mind“, also eine Art Autoreflexivität, eine Form des self-cancelling, des Zurücknehmens der vorgeblichen Wahrheit einer Geschichte. Und die andere Möglichkeit geht noch einen Schritt weiter, indem man sagt: Auch die ganze Welt außerhalb der Literatur ist Fiktion. Das hat Oscar Wilde auf diesen schönen Satz gebracht: „I treated Art as the supreme reality, and life as a mere mode of fiction.“ Da haben wir genau diese Dialektik. Aber das ist natürlich nicht meine Idee, sondern die Idee von Hans Vaihinger und seiner Philosophie des Als-Ob. Er sagt, nicht nur die Kunst, die Religion, die gesellschaftlichen Konventionen und Vorstellungskonstrukte, sondern auch alle Bereiche der Wissenschaften sind reine Fiktionen in dem Sinne, dass sie mit Vorstellungsgebilden arbeiten, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen, aber dennoch dazu beitragen können, auf eine sinnhafte Weise Wirklichkeit zu berechnen oder zu strukturieren. Das ist das Thema meiner Doktorarbeit. In der Literaturgeschichte war besonders der Roman ständig in der Defensive. Im 18. Jahrhundert hat man als Romanautor beteuern müssen: Das ist keine Fiktion, der Herausgeber kann bezeugen, es handelt sich um einen authentischen Tatsachenbericht, wie zum Beispiel im Vorwort von Robinson Crusoe. Später kam es zu zähneknirschenden apologetischen Eingeständnissen: Es tut uns leid, das ist nur Literatur, das ist nur Fiktion, nur etwas Sekundäres. Und dann hat Oscar Wilde die Fiktionalität nicht nur anerkannt, sondern fröhlich zelebriert und ist noch einen Schritt weitergegangen und hat gesagt: Die ganze Wirklichkeit ist Farce und Fiktion, auch die Vorstellung eines stabilen Ichs, einer Identität, das ist alles Fiktion. Deswegen spielt für mich Oscar Wilde in allen Texten eine Schlüsselrolle.

 

Sie prangern in Ihrer Dissertation eine „Fetischisierung der Wahrheit zur obersten Maßgabe aller Bewertung“ an und behaupten, erst die Fiktionalisierung der Welt macht Geltungsansprüche unabhängig vom Wahrheitsgehalt möglich. Damit verlassen Sie den Bereich der Literatur und betreten den der Ethik. Ein kühner Schritt?

 

Ich glaube in der Tat, dass wir die Wahrheit als Maßgabe zur Bewertung von Geltungsansprüchen in allen Bereichen der Gesellschaft so sehr fetischisieren, dass man für Inhalte, für Ethisches oder auch für Utopisches keinen Blick mehr hat. Ich habe unter anderem auch deswegen die Uni verlassen, weil ich irgendwann einmal die Studenten nach Oscar Wildes The Soul of Man under Socialism gefragt und als Antwort bekommen habe: Da brauchen wir uns gar nicht drüber zu unterhalten, das ist sowieso nicht realisierbar, das ist vollkommen utopisch. Ich dagegen stehe auf Oscar Wildes Seite, der gesagt hat: „A map of the world that does not include Utopia is not worth even glancing at.“ Das utopische Denken ist ja per definitionem eine Überschreitung bestehender Wirklichkeiten und Wahrheiten. Im Gegensatz zu den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, als gerade das utopische Denken so viel Unheil bewirkt hat, ist heutzutage das Gegenteil der Fall: Es herrscht ein absolut anti-utopisches Denken. Unterschwellig wird suggeriert: Was keine Wirklichkeitsattribute hat, was nicht wahr ist, berührt mich nicht, beschäftigt mich nicht, bringt mir nichts, ist nichts. Meine These in Hinblick auf den Literaturbetrieb ist, dass er ganz und gar von diesem Wahrheitsfetischismus durchdrungen ist. Und zwar einfach deshalb, weil heute intrinsische Ansätze der Literaturbetrachtung eigentlich keine Rolle mehr spielen. Mir fällt immer mehr auf, dass ein literarischer Text nicht aus sich selbst heraus gelesen, verstanden, kritisiert wird, sondern immer von irgendeinem Faktor aus, der schon vor dem literarischen Text gesetzt ist: Ist der Autor ein interessanter Mensch oder ein gut aussehender Mensch oder ist er noch jung oder war er mal auf der Uni und hat die Uni sogar verlassen oder lässt er sich in irgendwelche „ismen“ einordnen oder hat er einen ethnisch interessanten Hintergrund oder hat er einen interessanten Beruf oder kann er gut Fahrrad fahren. Auch da geht man von der alten platonischen Hierarchisierung der Welt aus und hält das Wirkliche erst einmal für wichtiger als die Poesie, die nach Platon nichts weiter ist als das Abbild eines Abbildes. In der Literaturszene wird nur noch ganz selten vom unmittelbaren Leseerlebnis ausgegangen, sondern immer von der Frage, wie wir das Literarische mit etwas Wirklichem relationieren können, also mit dem wirklichen Autor, mit dem wirklichen Hintergrund des Autors. Der literarische Text wird immer mehr als sekundäres Abbild oder als Anhang gesehen, das auf etwas Primäres verweist, das nicht Literatur ist. Literatur wird heutzutage vorwiegend mit nicht-literarischen Argumenten vertreten, verstanden und betrieben. Nicht zuletzt deshalb bin ich ein leidenschaftlicher Verfechter des „L’art pour l’art“, also auch ein Anhänger von Oscar Wilde, weil nirgendwo so dezidiert in der Literaturgeschichte die Autonomie der Literatur und des literarischen Werkes propagiert wurde. Oscar Wilde hat einmal gesagt: „To reveal art and to conceal the artist is art’s aim.“ Heute ist es genau umgekehrt: Man macht das Kunstwerk dicht und sagt etwas über den Künstler. Auch daher rührt meine Haltung gegenüber der Wahrheit.

 

Ihre Dissertation ist mit der ungewöhnlichen Widmung „Oscar Wilde und mir selbst“ versehen. Was steckt dahinter?

 

Mir war immer klar, dass, wenn ich ein solches Buch, also eine Doktorarbeit schreibe, ich mich mit einer besonderen Widmung belohnen werde. Sonst hätte ich diese Arbeit, die Betonung liegt auf Arbeit, nicht durchgehalten oder zu Ende gebracht. Wenigstens die Widmung sollte etwas Besonderes sein. Von augezwinkernder Leichtigkeit, also das Gegenteil des Buches. Deshalb die Widmung. Hätte ich das Buch nur mir selbst gewidmet, schlimm genug, vollkommen narzisstisch, grandios, arrogant. Mancher Rezensent des Buches war in der Tat empört. Aber in dem Moment, wo ich das Buch zugleich Oscar Wilde widme, ist es ja eine noch extremere Steigerung, gleichzeitig aber eine Wiederholung dessen, was Wilde selbst gemacht hat. Er wurde einmal gefragt: „Nennen Sie mir die 100 besten Bücher des 19. Jahrhunderts“, da hat er gesagt, er könne nur zwei nennen, weil er nur zwei geschrieben habe. Das ist auch eine absolute Arroganz bei Wilde, die er aber sehr liebenswert vorgebracht hat. Es ist natürlich ein oberflächlicher Verweis auf den Narzissmus des Schriftstellers, und ich halte bewusst meine Backe hin, aber die Widmung ist auch ein Ausdruck einer ganz großen Liebe und eines großen Respekts, den ich für Oscar Wilde empfinde. Als jetzt zum 100. Todestag Oscar Wildes so viele Sendungen im Fernsehen gezeigt wurden, kamen mir immer wieder die Tränen. Wie Shakespeare für Harold Bloom, so ist Oscar Wilde für mich ein „säkularer Christus“. Er eignet sich natürlich auch sehr zur Idolisierung, weil er genau diesen Passionsweg gegangen ist. Die Homosexualität war ja nur ein Vorwand für seine Verurteilung, in Wahrheit stand seine provozierende Art zu schreiben vor Gericht und man hat eben die Gelegenheit wahrgenommen, mit ihm abzurechnen, und er ist in der Tat für seine Kunst gestorben.

 

Neben Oscar Wilde, bewundern Sie Pinter und Shakespeare. Was haben Sie von den beiden gelernt?

 

Zu Shakespeare will ich nichts sagen. Harold Bloom hat das Wichtigste zu ihm gesagt. Zu Pinter: Als ich erstmals ein Drama von Pinter gelesen habe, es war die Birthday Party, konnte ich kaum etwas damit anfangen. Ich war noch ganz und gar der Deutschschüler, der sich fragte: Was soll das? Was will das Stück sagen? Also las ich schnell einige literaturwissenschaftliche Abhandlungen zu Pinter. Zu meiner Erleichterung fragten auch viele Literaturwissenschaftler: Was will uns Pinter sagen? Die Debatten drehten sich meist um diese eine Frage: „What does he mean?“ Einmal antwortete Pinter auf die enervierende Fragerei nach der Bedeutung seiner Stücke: „Das Wiesel unter der Cocktailbar.“ Die Literaturwissenschaft hat dieses Wiesel für eine tiefsinnige Beobachtung tiefenpsychologischer Art des Autors genommen, während Pinter nur mit der Kleptomanie seiner Kritiker spielte, die glaubten, unbedingt seine Werke deuten und bedeuten zu müssen. Nichts anderes lernen wir in der Schule: die Kleptomanie des Deuten- und Bedeutenmüssens. Sobald ich damit aufhörte nach Deutungen und Bedeutungen zu fragen, konnte ich Pinter mit immer mehr Vergnügen lesen. Der Fehler, den ich machte, war, Literatur mimetisch zu sehen, als Abbild nicht-literarischer Gegebenheiten, Ideen oder Botschaften; letztendlich die übliche literaturfeindliche Haltung, dass Literatur nur dann legitimiert ist, wenn sie auf etwas verweist, das nicht Literatur ist.

Was ich an Pinter ebenfalls schätze ist sein Verhältnis zur Sprache. Er ist ein Sprachpessimist. Eines der häufigsten Wörter in seinen Stücken ist die Regieanweisung: Pause. Oder Stille. Teils können die Pinterfiguren nicht sprechen, teils wollen sie es gar nicht. Die Pinterfiguren sprechen oft unmotiviert, un-verständlich, unwillkürlich. Noch ist das Gesagte bei Pinter die einzige oder wichtigste Sprachebene. Was seine Figuren nicht sagen ist oft bedeutsamer als was sie sagen. Sie erscheinen als stammelnde Sprachtaktiker, denen die Sprache nicht zur Verständigung dient, sondern dem Hinhalten, Ausweichen, oder dem Bei-sich-Selbst-Bleiben in auswegslosen zwischenmenschlichen Situationen, denen keine Sprache mehr gewachsen ist. Wie im wirklichen Leben. Wie oft hat mich die Sprache gerade dann verlassen, wenn ich sie am dringendsten brauchte. Oder sie am meisten von mir erwartet wurde. In entscheidenden Lebenssituation bin ich, wie die Pinterfiguren, ein Sprachversager. Meine eigenen literarischen Texte sind nicht zuletzt Variationen verspäteter Sprache, die in realen Lebenssituationen ungesagt, verstummt oder in sich zusammengesackt ist.

 

Wilde, Pinter, Shakespeare, alles Dramatiker. Warum schreiben Sie keine Theaterstücke? Ist der Respekt zu groß?

 

Ja. Das Drama erlaubt einem nicht so viele Freiheiten wie die Prosa. Als Dozent habe ich Drama unterrichtet, ich war selber Schauspieler in einer Theatergruppe, als Vierzehnjähriger waren alle meine literarischen Versuche Dramen. Aber ich glaube, ich habe tatsächlich zu viel Respekt. Ein Drama lebt ja von der Unmittelbarkeit. Es gibt keine vermittelnde Instanz, keine Erzählerstimme, das Drama ist die, in Anführungszeichen, objektivste Kunstform, weil ohne irgendeine Vermittlung einfach agiert und reagiert wird.

 

Bald erscheint Ihr drittes Buch, Opus Eroticum. Das ist eines Ihrer frühen Werke…

 

Ja. Es ist mir ganz wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Reihenfolge der Veröffentlichung nicht der Reihenfolge der Entstehung entspricht. Opus Eroticum ist eigentlich schon in den Jahren 93, 94, 95 in mehreren Anläufen entstanden, es ist ein sehr ungestümer Text. Den Text zu schreiben, war für mich eine Befreiung, bei der ich es erstmals schaffte, alle Instanzen der literarischen oder politischen correctness einfach wegzulassen. Insofern ist dies mein authentischster Text, was ja nicht unbedingt ein literarisches Kriterium ist.

 

Einige Kapitel wurden bereits auf der Buchmesse als Werbeaktion vorveröffentlicht. In den mir vorliegenden Kapiteln konnte ich kein Gestaltungsprinzip erkennen, hatte eher den Eindruck, es handle sich um Geschichten.

 

Das Gestaltungsprinzip ist die Besessenheit, die durchgehende Besessenheit des Ich-Erzählers in Bezug auf Frauen: „Ich liebe alle Frauen.“ Ein zweites Gestaltungsprinzip ist die parodistische Einkleidung des Buches als Ratgeber bzw. Handbuch. Der Untertitel sagt es bereits: Handbuch des Verführers. Vergessen wir nicht, wir leben im Buchzeitalter der Handbücher und Ratgeber, nicht der Romane. Ein drittes Gestaltungsprinzip ist die unverschämte Offenheit des Ich-Erzählers und seine dreiste Art der Leseransprache. An manchen Stellen greift er buchstäblich und leibhaftig aus dem Buch hinaus und geht besonders den Leserinnen an die Wäsche. Angewandte, performative Verführung. Das Buch ist ein Spiel, ein postmodernes Spiel mit Genres, Zitaten, Erwartungen und Haltungen. Es ist kein Buch mit einem linearen Plot, sondern folgt eher einem musikalischen Prinzip:  die Variation einer Besessenheit. Es ist keine epische Autobahn, sondern in der Tat fragmentarisch. Man muss es nicht unbedingt linear lesen, sondern kann darin schmökern. Es ist auch eine Hommage an Roland Barthes Fragmente einer Sprache der Liebe. Ein solches Thema kann man nur fragmentarisch angehen: also in diskontinuierlichen Gesten, Denkfiguren und Geschichten. Deshalb ist der Text  in viele  Kapitel unterteilt. Jedes Kapitel trägt eine Überschrift. In jedem Kapitel wird zunächst eine kühne These aufgestellt, eine These, die nicht politically correct ist, zum Beispiel: wie man eine Frau kauft für eine Mark oder wie man eine Frau erobert oder wie man sie wieder los wird und so weiter. Das wird dann nach allen Regeln der essayistischen Kunst sehr provozierend belegt. Dann aber unterlaufen die einzelnen Kapitel immer wieder sich selbst, weil sie zunehmend narrativer werden, und im Narrativen zeigt sich, dass die Thesen nicht nur nicht haltbar sind, sondern sich oft in das krasse Gegenteil verkehren. Deshalb verzeihen mir gerade die Frauen diesen Text.

 

Warum veröffentlichen Sie jetzt eine frühe Arbeit?

 

Weil mir dieser Text von allen, die ich geschrieben habe, am meisten am Herzen liegt, weil es der erste Text ist, weil ich sehr viel daraus gelernt habe für das Schreiben. Er ist wirklich sehr ehrlich und fast im Rausch geschrieben. Das ist der Text, bei dem ich gelernt habe loszulassen und eine Besessenheit zuzulassen, Besessenheit eben als wichtige Bedingung für Literatur: Wer die Besessenheit nicht zulässt, wird auch nicht gut schreiben, wird niemals einen drive oder einen Wind in seine Texte hineinbekommen. Der Grund, warum man das Buch erst jetzt verlegt, ist folgender: Mein Verleger Sergiu Stefanescu kennt die Reihenfolge und die Geschichte der einzelnen Texte genau. Er weiß also, dass dieser Text seit sechs oder sieben Jahren wie ein Waisenkind oder ein ewiger Embryo in der Luft hängt.

 

Wir haben schon kurz darüber gesprochen, dass das letzte Jahr für Sie sehr erfolgreich war. Solche Preise haben durchaus etwas Zweischneidiges. Wurden Sie eher beflügelt, oder gab es auch eine Art Lähmung, weil die Erwartungshaltung stieg?

 

Es war eine wichtige Bestätigung nicht nur für mich, sondern auch für den Verlag und für all die Menschen, die an meine Texte glaubten. Zugleich waren die Preise auch eine große Last, aber in einer ganz anderen Hinsicht: Es war eher die Organisation, der Umgang mit der Presse, da habe ich sehr viele Fehler gemacht und war ziemlich überfordert. Lähmen tut es mich eigentlich nicht, weil ich so viele Romane in der Schublade habe, dass es gar nicht mein Problem ist, mich zu fragen, o Gott, was schreib ich denn jetzt, um das zu bestätigen. Ich habe eher das umgekehrte Problem: Warum gibt es keine gesellschaftlichen oder literarischen Kapazitäten, um diese Texte bald zu veröffentlichen. Wenn nach sechs oder sieben Jahren das Buch herauskommt, hat man keinen wirklichen Bezug mehr dazu. Die Leidenschaft und das Herzblut sind vergangen. Das ist eine sehr große Belastung. Ich lebe in einem überfüllten Zimmer, voller Manuskripte, und ich habe den Eindruck, die kommen gar nicht heraus. Denn nur das, was auf den Punkt gebracht wird, ist, wie Nietzsche sagt, tot, und gibt zugleich wieder Raum für Neues.

 

Der Ithaka-Verlag ist ein kleiner Stuttgarter Verlag. Haben Sie in dem Verleger Sergiu Stefanescu so etwas wie die ideale Verlegerpersönlichkeit für Ihre Literatur getroffen?

 

Ja, das ist der einzige Verleger, der sich für meine Art zu schreiben interessiert. Er hat meine Manuskripte über einen anderen Schriftsteller bekommen. Er hat die Briefe aus Amerika gelesen und dann sofort gesagt: „Ich will das verlegen.“ Da spielten für ihn auch die Verkaufszahlen keine Rolle. Er hat das Buch nie als Tauschwert gesehen, immer als Gebrauchswert, wenn man diese Worte von Marx einmal verwenden darf. Für mich ist es kein Zufall, dass Sergiu nicht aus Deutschland kommt. Jemand schrieb über ihn: „der unangepasste Kopf des rumänischen Dissidenten Sergiu Stefanescu.“ Er ist in der Tat bis zum heutigen Tag ein Dissident,  der für seine Überzeugungen in seinem Land ins Gefängnis gegangen ist. Auf der literarischen Ebene fühle ich mich sehr daheim in diesem Verlag. Wie ich eben schon sagte: Sergiu bewahrt mich oft davor, Passagen zu streichen und sagt mir: Wie kann man das nur streichen wollen, lass das bitte stehen. Für gewöhnlich ist die Reaktion der Lektoren ja: Das ist zuviel, viel zuviel, wir wollen nicht so übertriebenes Zeug haben, wir wollen es ökonomisch, pragmatisch, schnell, kein überflüssiges Wort. Dem kann ich nur entgegenhalten: Die ganze Literatur besteht aus überflüssigen Worten.

 

Das ist ein schönes Schlusswort. Herr Zelter, wir danken Ihnen für das Gespräch.

 

 

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